„Reform“ und „Restauration“. Politischer und sozio-kultureller Wandel in Japan und Preußen

„Reform“ und „Restauration“. Politischer und sozio-kultureller Wandel in Japan und Preußen

Organisatoren
Zentrum für Deutschland- und Europastudien, Universität Tokyo, Komaba; Institut für Europäische Geschichte Mainz
Ort
Tokyo
Land
Japan
Vom - Bis
18.09.2009 - 19.09.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Małgorzata Morawiec, Institut für Europäische Geschichte Mainz

Am 18. und 19. September 2009 fand in Tokyo eine gemeinsam vom Zentrum für Deutschland- und Europa-Studien der Universität Tokyo in Komaba1 und dem Institut für Europäische Geschichte Mainz getragene und hauptverantwortlich von Harald Kleinschmidt2 von der Tsukuba Universität organisierte Tagung statt, auf der zwei Ereignisfolgen in der deutschen (preußischen) und in der japanischen Geschichte in einen Vergleich zueinander gestellt und diskutiert wurden. Es handelte sich einerseits um die zwischen den Jahren 1867 und 1870 zu beobachtende Veränderung der politischen und der sozialen Struktur Japans, die unter der Bezeichnung „Meiji-Erneuerung“ oder „Restauration“ in die Geschichtsschreibung einging, und andererseits um die preußischen Reformen im beginnenden 19. Jahrhundert. Dieses thematische Umfeld fand im Titel der Tagung seinen Niederschlag: „Reform“ und „Restauration“. Politische und sozio-kultureller Wandel in Japan und Preußen. Die Anführungszeichen bei den begrifflichen Umschreibungen der zu diskutierenden Prozesse deuten bereits die methodische und thematische Schwierigkeit an, mit der die Tagungsteilnehmer konfrontiert wurden und die die Veranstalter bewusst als Forschungsdesiderat in den Raum gestellt haben.

Den für die Tagung leitenden Gedanken der Gemeinsamkeiten und des Grads der Unterschiede zwischen der „Meiji-Restauration“ und den Reformen in Preußen fächerte HARALD KLEINSCHMIDT (Tsukuba Universität) in seinem einführenden Referat auf. Unter den Gemeinsamkeiten betonte er unter anderem begriffliche und inhaltliche Aspekte der in Angriff genommenen Veränderungen: „Wohl die wichtigste Gemeinsamkeit besteht in der Zusammenfügung zweier kaum zueinander passender Leitbegriffe, nämlich ‚Reform‘ einerseits und Wiederherstellung des Gewesenen (…) andererseits. In beiden Ereignisfolgen bezeichnen diese Wörter tiefgreifende, gleichwohl partielle Wandlungen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme sowie deren kultureller Kontexte. In beiden Fällen wurden diese Wandlungen durch Wirkungen von außen, das heißt durch internationale Beziehungen beeinflusst. In beiden Ereignisfolgen gab es eine klare Verteilung der die Initiative ergreifenden Akteure zwischen den beiden Zentren und einigen preußischen Provinzen sowie entfernt gelegenen Daimayaten Japans“.

Die Unterschiede oder Differenzen der in beiden Ländern eingeleiteten Prozesse bestanden in der Zeitfolge der Abläufe: in Preußen folgte der ‚Reform‘ eine tatsächliche Wandlung der politischen und sozialen Zustände; in Japan dagegen „waren die Bezeichnungen für Reform und Erneuerung zu einer die inneren Widersprüche zusammenfügenden zeitlichen wie auch sachlichen Einheit verbunden, mithin war hier die Reform zugleich Erneuerung, Restauration und Regeneration“. Ein zusätzlicher Unterschied bestand darüber hinaus in der zeitlichen Verschiebung der Ursache und Wirkung der Reform- bzw. Restaurationsprozesse. In Preußen wurden die Reformen durch den intellektuellen Ansporn der Aufklärung in die Wege geleitet und als Folge dieser Denkprozesse Ende des 18. Jahrhunderts sozial-politisch umgesetzt. In Japan wurden auf lokaler Ebene die Reformprozesse bereits Mitte des 18. Jahrhunderts intellektuell vorbereitet und durchgeführt, bevor die Zentrale in Edo den Reformprozess tatsächlich als erforderlich einsah.

Die Bedeutung der Aufklärung für die intellektuelle und geistig-politische Bereitschaft zur Reform der überkommenen Strukturen und Traditionen thematisierte in seiner einleitenden keynote adress auch HEINZ DUCHHARDT (Mainz). Ohne Aufklärung hätte es diesen bedeutsamen Schritt in die Moderne in (West)Europa nicht gegeben. Mit wesentlicher Nuancierung sowohl der in Europa stattgefunden Reformprozesse wie auch der Reformbereitschaft in den (eher west- und mittel-) europäischen Staaten verwies Duchhardt auf die Radikalität und Beharrlichkeit der Reformer des frühen 19. Jahrhunderts, den Staat und seine Gesellschaft grundlegend zu verändern, ohne das herkömmliche Staats- und Gesellschaftsmodell umstoßen zu wollen. Der „Modernisierungseffekt war (…) unübersehbar: Er reichte von sozialen Veränderungen etwa im Hinblick auf die Stellung der Bauern und der Juden im ökonomischen System bis zu Rechtsreformen, die ein Mehr an Rechtssicherheit intendierten, von der Erweiterung des universitären Fächerkanons und der neuen Formen der Wissensvermittlung bis hin zur radikalen Beschneidung der Omnipotenz und Omnipräsenz der Kirche und der Orden“. So gesehen war auch die Französische Revolution nur ein Kind der aufgeklärten Gesellschaften und eine Stieftochter des „Aufgeklärten Absolutismus“, der außerhalb Frankreichs einen revolutionären Umbruch durch Reformen und Staatsmodernisierung verhindert hatte. Die Überleitung der Fragestellung, „ob und wie dieser europäische Reformismus des ersten Viertels oder Drittels des 19. Jahrhunderts mit ähnlichen außereuropäischen Phänomenen in einen Zusammenhang gebracht werden kann, mache den Reiz der Konferenz aus.

Das Programm der Konferenz wurde in drei Sektionen durchgeführt. In der ersten Sektion „Perzeption des Wandelns in Europa und Japan“ referierten BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster), HARALD KLEINSCHMIDT (Tsukuba) und REINHARD ZÖLLNER (Bonn). Stollberg-Rilinger thematisierte in ihrem Vortrag das Spannungsverhältnis zweier „Kampfbegriffe“ der Reformzeit um 1800: des Traditionalismus und des Rationalismus des politischen Denkens, die ihrerseits ihren Niederschlag auf dem Gebiet der Reichspublizistik und des Naturrechts gefunden hätten. Aus der Perspektiver der longue durée konnte sie als Fazit die beiden „politischen Sprachen“3: die des im Rationalismus verankerten Reichsdenkens und die der sich in der Tradition etablierten Metapher vom Staat als „lebendigem Organismus“, dessen juristische Legitimation selbstredend auf dem Naturrecht fußt, in ihrer Fortwirkung auch in der Reformzeit des 19. Jahrhunderts festmachen. Diese „politischen Sprachen“ wirkten allerdings weniger in das politische Geschehen hinein als vielmehr in das soziale Gefüge der politisch-juristischen Elite. Sie formierten ihr neues bürokratisches Selbstverständnis, ihren geistigen Habitus und ihren politischen Gestaltungswillen.

Den Faden der „Traditionalität der Kultur und der Kulturalität der Tradition“ auf europäischer Ebene nahm HARALD KLEINSCHMIDT in seinem Beitrag auf. Er verwies auf die wesentlichen Aspekte der Formierung der Tradition und des Aufbewahrens vom historischen Erbe als Teile der universellen Prozesse der kulturellen Selbstentfremdung oder Vergangenheitswahrnehmung aller Kollektive und arbeitete Unterschiede heraus, die sich zwischen Japan und Europa zeigen. So „diagnostizierten die europäischen Reisenden [Japan gegenüber] ein indigenes Veränderungspotential, das sie in Wörtern zum Ausdruck brachten, die der Sprache des historischen Materialismus entstammten. In Bezug auf das Vergangenheitsbewusstsein glaubten die Europäer, in Japan Vertrautes wiederzufinden, beschrieben japanische Kultur als sich selbst entfremdend und meinten, sie seien Zeugen eines sich vollziehenden Traditionsbruchs“.

Dass diese Wahrnehmung auch Brüche beinhalten kann und muss, kam im folgenden Vortrag deutlich zum Ausdruck. REINHARD ZÖLLNER (Bonn) widmete sich darin dem Thema der Sektion aus einer umgekehrten Perspektive: der Traditionalität der Kultur und der Kulturalität der Tradition in Japan. An Bespielen aus der Kunst- und Kulturgeschichte Japans zeigte der Referent Grundmodelle auf, in denen sich die Spannung zwischen der äußeren Wahrnehmung der kulturpolitischen Haltung und der verdeckten inneren Modernisierung auftat.

Die zweite Sektion war den „Reformen in Preußen im frühen 19. Jahrhundert“ gewidmet. Als Referenten traten auf: PAUL NOLTE (Berlin) mit einem Beitrag über „Die Perspektive von Innen: Anschauungen von Kontinuität und Wandel in den preußischen Reformen“, AKIRA YAMAZAKI (Yamagata), der über „Japanische Forschungen zur preußischen Reform in Vergangenheit und Gegenwart“ berichtete, und WALTER REESE-SCHÄFER (Göttingen) mit einem Beitrag zur „Ideenpolitik der (preußischen) Reformer“. Alle drei Beiträge spannten den Bogen bis in die Gegenwart − der aktuelle politische Bezug sowohl in Japan als auch in Deutschland zeigte sich deutlich.

Die dritte Sektion der Konferenz „Meiji-Restauration“ war für die europäischen Zuhörer besonders reizvoll. Die Referenten der Sektion HIROSHI MITANI (Tokyo), MICHAEL WACHUTKA (Tübingen/Kyoto) und KAZUHIRO TAKII (Kyoto) thematisierten Aspekte japanischer Historiographie und japanischer Geschichte aus der Perspektive der Restauration und Innovation. Mitani widmete sich in seinem Beitrag der Historiographie der Meiji Restauration, wobei er auf eine Entwicklungsstruktur zurückblicken konnte: von der politisch engagierten Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts über die narrative Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die marxistisch verankerte Sozialgeschichte. Diese Tendenzen mündeten dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den allgemeinen Methodenpluralismus ein. Michael Wachutka verzeichnete in seinem Beitrag über die frühmeijizeitliche Religions- und Bildungspolitik zahlreiche restaurative und innovative Elemente, die in Japan von verschiedenen offiziellen und einflussreichen Stellen initiiert oder auch nur akzeptiert wurden, um in seinem Fazit auf die klaren Modernisierungstendenzen in der kaiserlichen Religions- und Bildungspolitik verweisen zu können. Der letzte Beitrag der Sektion wurde einem personellen Vergleich gewidmet: des japanischen Premierministers des ausgehenden 19. Jahrhunderts Ito Hirobumi mit Otto von Bismarck.

Die Konferenz wurde mit einer abschließenden Diskussion beendet. Die Publikation der Beiträge in einer japanischen Zeitschrift ist geplant.

Konferenzübersicht:

Eröffnung durch Harald Kleinschmidt (Tsukuba) und Ishida Yuij (Tokyo)

Einführung: Heinz Duchhardt (Mainz), Harald Kleichschmidt (Tsukuba)

Sektion „Perzeption des Wandelns in Europa und Japan“

Barbara Stollberg-Rilinger (Münster), Traditionalismus – Rationalismus. Zwei Wege zur Reform um 1800?

Harald Kleinschmidt (Tsukuba), Traditionalität der Kultur und Kulturalität der Tradition in Europa

Reinhard Zöllner (Bonn), Traditionalität der Kultur und Kulturalität der Tradition in Europa

Sektion „Reformen in Preußen im frühen 19. Jahrhundert“

Paul Nolte (Berlin), Die Perspektive von Innen: Anschauungen von Kontinuität und Wandel in den preußischen Reformen

Akira Yamazaki (Yamagata), Japanische Forschungen zur preußischen Reform in Vergangenheit und Gegenwart

Walter Reese-Schäfer (Göttingen), Ideenpolitik der (preußischen) Reformer

Sektion „Meiji ‚Restauration‘“

Hiroshi Mitani (Tokyo), The Historiography of the Meiji Regeneration

Michael Wachutka (Tübingen/Kyoto), Restaurative und innovative Elemente in der frühmeijizeitlichen Religions- und Bildungspolitik

Kazuhiro Takii (Kyoto), Was Ito Hirobumi Japan‘s Bismarck?

Anmerkungen:
1 Vgl. Atsuko Kawakita, Stand und Perspektiven der Europastudien (European Studies) in Japan. Das Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Tokyo, Komaba, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 6 (2007), S. 201–208.
2 Harald Kleinschmidt ist Professor für Geschichte am College of International Studies an der Universität Tsukuba, Japan, und Inhaber einer Stiftungsprofessur für Europäische Studien an der Universität Tokyo, Japan.
3 Stollberg-Rilinger definiert eine politische Sprache als „Set von methodischen Regeln, Begriffen, rhetorischen Konventionen, Argumentationsmustern, aber auch inhaltlichen Vornahmen, Leitmotiven etc. d. h. ein kollektiver Code, in dem sich die, die ihn erlernt haben, ganz selbstverständlich verständigen. In einer solchen politischen Sprache lässt sich – wie in einer eigentlichen Sprache – über vieles sprechen; sie erlaubt durchaus unterschiedliche, selbst gegensätzliche politische Aussagen. Dennoch beeinflusst und begrenzt eine solche Sprache den Spielraum dessen, was Anspruch auf Plausibilität und soziale Glaubwürdigkeit erheben kann. Politische Sprachen werden von den Mitgliedern einer sozialen Gruppe geteilt – etwa einer bestimmten professionellen Elite“, im Manuskript des Konferenzbeitrags, S. 3.